Von Veronika Gäng

In den letzten Wochen gab es einige Schnittstellen zwischen den Streiks des öffentlichen Bus- und Bahnverkehrs und unserem Schulalltag. Klassenarbeiten wurden verlegt, Nachschreibeklausuren wieder um eine Woche verschoben, Hybridunterricht angeboten und bei manchen Schüler*innen drängte sich, wie es eben dem jungen Gemüt entspricht, mehr und mehr die Frage auf „Müssen wir überhaupt kommen?“ – JA! Und nochmal JA! – Eine Antwort, wie sie eben dem Lehrer*innen-Gemüt entspricht.

Einige Kolleg*innen haben das Motivationsvakuum der Streiks genutzt, um den Unterricht anders zu gestalten. Sei es mit etwas mehr Gelassenheit oder mit etwas mehr Nachdruck. Sei es mit mehr Kreativität oder mit einer Extraportion individueller Beratung und persönlichem Austausch. Sprich, die anwesenden Schüler*innen haben gespürt, wie sich ihre Lehrkräfte flexibel neu verhalten und die Lücke des sonst ungebrochenen Alltags mit einer persönlichen Nuance schließen. Und was gibt es Schöneres als den gewohnten Schulalltag, die üblichen Gesichter vor der Tafel mal ein kleines Bisschen anders zu erleben?

Spätestens als mein Sohn schreiben lernte, wurde mir zum zweiten Mal in meinem Leben bewusst, wie sehr Schreiben persönlicher Ausdruck ist. Es löst nicht sofort, aber mehr und mehr die vielen gemalten Bilder ab. Die kindliche Freude darüber „Mama ist toll“ oder „Pupskakablöd“ schreiben zu können, ist unermesslich. Was passiert auf diesem Weg des Schreibens bis hin in die Oberstufe, wo meine Schüler*innen über dem leeren, linierten Papier mit breitem weißem Rand (!) fast schon ächzend zusammenbrechen.

Waren sie nicht auch einmal aufgeregte Erstklässler*innen? Haben sie nicht auch mit Begeisterung ihr eigenes Mäppchen sortiert und Lieblingsstifte nicht wegwerfen wollen? Wo ist ihre Euphorie für die schriftliche Ausdrucksmöglichkeit hin? Und wenn ihr persönlicher Ausdruck nicht mehr das Schreiben ist, was ist es dann? Diese Frage ging mir nicht aus dem Kopf, deshalb stellte ich sie: „Habt ihr euren persönlichen Ausdruck schon gefunden?“ – „Was ist dein Ausdruck deiner Selbst?“ Wir sammelten und prüften Hobbys, wir sammelten Erfahrungen aus unserem Leben und natürlich schrieben wir, was das Zeug hielt, nur um unseres Ausdrucks willen. Nicht für irgendeinen Zweck, nicht für eine Note, nicht für Lob und Kritik – nicht für das Abitur.

Am Ende der Doppelstunde „Kreative Schreibanlässe – Schreiben ist Ausdruck“ lag ein ganzer literarischer Berg in unserer Mitte. Da lagen Listen mit 20 Lieblingswörtern, da lagen persönliche Gedichte und Texte, da lagen Bierdeckelgeschichten mit Witz-, Grusel- oder Romanzen-Faktor – und da lag vor allem unser Leben in der Luft. Schreiben ist Ausdruck. Ein kritzeliger Post-it ist Ausdruck von Eile. Eine Geburtstagskarte an eine Freundin ist Ausdruck von Wertschätzung. Ich stutze – wie häufig wird mein Ausdruck meiner inneren Verfassung eigentlich gerecht? Wann habe ich etwas gekritzelt, obwohl ich es hätte schön schreiben wollen, wann schrieb ich sachlich, obwohl ich liebevoll schreiben wollte, wann schrieb ich liebevoll, obwohl ich kritisch sein wollte? Und nicht zuletzt: wann sagte und schrieb ich gar nichts, obwohl ich mich hätte ausdrücken wollen?

Streik ist Ausdruck. In diesem Fall für Unzufriedenheit. So fern waren wir den streikenden Bahn- und Busfahrer*innen also gar nicht, als wir selbst eine Doppelstunde lang auf der Suche nach unserem eigenen Ausdruck waren. Einen Ausdruck für sich selbst zu finden, ist wahrscheinlich eine der anspruchsvollsten Aufgaben in unserem Leben.

Wie schön, dass wir darin immer wieder auch selbst Lernende sind und junge Menschen auf dieser Suche begleiten dürfen.

 

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